Der Tag, an dem ich „Nein“ sagte – und niemand starb
Wie ich Grenzen setzte und die Schuldwelle überstand
Content Note: Dieser Text erwähnt Überforderung, Schuldgefühle und das Setzen von Grenzen. Keine detaillierten Beschreibungen von Krisen. Bitte lies achtsam.
Die Szene
Donnerstag, 16:05 Uhr. Die Büroküche roch nach Filterkaffee und Orangenreiniger. Ein Kollege steckte den Kopf durch die Tür: „Könntest du das Reporting noch heute übernehmen? Geht schnell.“
Mein Bauch zog sich zusammen wie eine Handbremse in der Kurve. In meinem Kopf liefen zwei Filme: Film A – ich sage Ja, arbeite bis spät, bin „hilfsbereit“. Film B – ich sage Nein, jemand ist enttäuscht, ich bin „schwierig“.
Ich hörte mein eigenes „Ja“ schon anrollen. Stattdessen sagte ich, langsam:
„Ich habe heute keine Kapazität dafür. Ich kann morgen zwei Stunden blocken—wenn das hilft.“
Der Kollege nickte. „Alles klar, danke fürs Bescheid sagen.“ Er ging. Der Raum blieb stehen. Niemand starb. Nur mein Puls brauchte noch eine Minute.
Warum ich das schreibe
Für mich war „Nein“ lange ein Alarmwort. Es klang nach Bruch. Heute klingt es nach Pflege: von Zeit, Energie und Ehrlichkeit. Dieser Text ist keine Anleitung, sondern eine Erinnerung: Wie sich ein echtes Nein anfühlt, wie ich die Schuldwelle surfe und was mir hilft, nicht wieder ins Autopilot-Ja zu rutschen.
Einsicht 1: Das vorbereitete Satzstück
In heiklen Momenten brauche ich vorformulierte Sätze—klein, klar, sagbar, wenn mein Kopf rauscht.
Meine drei Lieblings-Skripte (zum Kopieren):
- „Ich habe dafür heute keine Kapazität.“
- „Ich kann morgen/Donnerstag von 10–12 Uhr—passt das?“
- „Das mache ich nicht, aber ich kann X vorschlagen.“
Diese Sätze sind kein Stacheldraht. Sie sind Geländer. Ich halte mich fest, bis mein Nervensystem mich wieder einholt.
Einsicht 2: Die Verzögerung ist eine Grenze
Ich übe den Satz: „Ich melde mich heute Abend dazu.“
Nicht, um zu vertrösten—sondern um Zeit zum Prüfen zu haben: Was kostet mich das? Wofür sage ich dann Nein? Oft merkt mein Körper in Ruhe, was mein Kopf im Eifer übersieht.
Mini-Check (2 Minuten):
- Wieviel Zeit/Energie kostet es?
- Was fällt dafür weg?
- Will ich es wirklich—oder will ich gefallen?
Einsicht 3: Die Schuldwelle kommt. Sie geht auch.
Nach meinem Nein spüre ich meistens Schuld. Früher interpretierte ich sie als Beweis: „Siehst du, du bist egoistisch.“ Heute nenne ich sie beim Namen: eine Welle. Sie hat Anlauf, Höhe, Abklingen.
Was mir beim Surfen hilft:
- Benennen: „Das ist Schuldgefühl, nicht Gefahr.“
- Körper: 60 Sekunden Fußsohlen spüren, Schultern senken, ausatmen.
- Gegenbeweis loggen: Was wurde besser, weil ich Nein sagte? (Heute: Feierabend um 18:10, warmes Essen, ruhigerer Schlaf.)
Ich sammle diese Gegenbeweise im Evidence-Log. Beim nächsten Mal sind sie mein Board.
Einsicht 4: Micro-Boundaries im Alltag
Grenzen müssen nicht groß aussehen. Drei kleine, die meinen Tagen gut tun:
- Kalenderklammern: Zwei 20-Minuten-Blöcke täglich ohne Termine (Weichlanden-Zeit).
- Antwortfenster: Mails 2×/Tag, Messenger stumm bis 15:00. (Nicht antisocial—antistress.)
- Scope-Karten: „Ja, unter dieser Bedingung.“ Beispiel: „Ja, aber nur die Zahlen für Q3, keine Grafiken.“
Klein ist glaubwürdig. Klein überlebt Stress.
Einsicht 5: Ein Nein schützt auch das Ja
Ein ehrliches Nein hält meine Zusagen sauber. Ich arbeite konzentrierter, bin freundlicher, wenn ich weniger verspreche. Mein Ja wird teurer—und damit wertvoller.
Sanfte Einladung
Wenn du magst, probiere heute eine Kleinigkeit aus:
- Wähle ein Satzstück und schreibe es sichtbar auf (Post-it, Homescreen).
- Baue eine Verzögerung ein („Ich melde mich heute Abend“), wo du sonst automatisierst.
- Logge einen Gegenbeweis, wenn die Schuldwelle kommt.
Nicht das große Lebens-Nein. Nur ein kleines, das hält.
Ressourcen & Hinweise
Dieser Blog ersetzt keine Therapie und gibt keine Diagnosen. Er beschreibt persönliche Erfahrungen.
- In akuten Krisen in Deutschland: Notruf 112.
- TelefonSeelsorge: kostenfrei & anonym (Telefon, Chat, Mail – 24/7).
- Für junge Menschen: krisenchat (24/7 Chat).
- Informiere dich über lokale Beratungsstellen (z. B. Sozialpsychiatrischer Dienst deiner Stadt).
Wähle sichere Wege. Wenn du unsicher bist, sprich mit Fachpersonen oder vertrauten Menschen.
Fußnote an mich selbst
Heute habe ich Nein gesagt. Morgen erinnere ich mich daran, wofür ich Ja übrig habe.

