Wenn Armut zum „Vibe“ wird
Eine Geschichte über Scham, Überleben – und die Romantisierung des Mangels.
Content Note:
Dieser Text berührt Themen wie Armut, soziale Ausgrenzung, Scham und psychische Belastung.
Er ist kein Vorwurf. Aber ein Spiegel.
Die Szene
„Mein Kind, es tut mir leid, ich habe keine zehn Euro.“
Ein Satz, kaum lauter als ein Flüstern – aber in manchen Familien hallt er ein Leben lang nach.
Ein Vater, beschämt.
Eine Tochter, die sich wünscht, sie hätte nie gefragt.
Zwei Menschen, gefangen in demselben stillen Schmerz:
dem Gefühl, zu wenig zu sein in einer Welt, die Überfluss feiert.
Während auf Social Media Menschen mit Coffee-to-go und Minimalismusfiltern posieren,
nennt man das: „Den einfachen Lifestyle.“
Offline heißt es schlicht: Existenzangst.
Die Täuschung
Armut ist kein Stil.
Sie ist keine Farbe, kein Trend, kein ästhetisch fotografierbarer Bruch in der Großstadtfassade.
Sie ist Schweiß auf der Stirn,
wenn du die Rechnung an der Supermarktkasse siehst.
Sie ist das Warten auf das „Vielleicht nächste Woche“,
das dein Vater sagt, um dich und sich selbst zu trösten.
Sie ist die Scham, jemanden nicht zum Geburtstag deines Kindes einzuladen,
weil du keinen Kuchen bezahlen kannst, den man auf Instagram zeigen könnte.
Und während online Verzicht zur Tugend erklärt wird,
verhungert in Wirklichkeit nicht der Konsum –
sondern der Mensch.
Die stille Realität
In Deutschland leben über 14 Millionen Menschen an der Armutsgrenze.
Über 200.000 – 800.000 davon in absoluter Armut – also ohne genug Geld für Miete, Heizung, Lebensmittel. Das sind keine Statistiken. Das sind Vornamen. Gesichter. Kinder.
Und während Influencerinnen auf TikTok sagen,
sie hätten „FOMO, weil sie nie im Gemeindebau aufgewachsen sind“,
träumen andere davon, dass ihre Waschmaschine wieder funktioniert.
Was für die einen „authentisch“ klingt,
bedeutet für andere kalte Nächte,
Scham beim Amt,
und das Gefühl, dass dein Wert an deinem Kontostand gemessen wird.
Die psychische Wunde
Armut macht nicht nur arm.
Sie macht müde.
Sie nagt an Selbstwert, an Vertrauen, an Würde.
Wer lange genug zählen muss,
lernt irgendwann, sich selbst kleinzurechnen.
Ein Psychotherapeut sagte einmal:
„Soziale Ausgrenzung wirkt auf das Gehirn wie körperlicher Schmerz.“
Das ist keine Metapher. Das ist Biologie.
Und diese Wunde heilt nicht mit einem neuen Trend,
nicht mit einem viralen Hashtag,
und auch nicht mit dem Satz: „Ich könnte auch so leben.“
Die Heuchelei
Wer Armut romantisiert,
verwechselt Echtheit mit Entbehrung.
Es ist leicht, „weniger zu besitzen“ zu feiern,
wenn man jederzeit mehr haben könnte.
Es ist leicht, sich einen „clean aesthetic“ zu leisten,
wenn man nie gezwungen war, eine Jacke zu flicken,
weil keine neue drin war.
Romantisierte Armut ist nichts weiter
als das Wellnessprogramm der Privilegierten.
Ein ästhetisch verpacktes Mitleid,
das sie sich selbst als Offenheit verkaufen.
Die Kinder der Armut
Kinder, die früh gelernt haben,
dass Bitten Demütigung bedeuten kann.
Dass es besser ist, zu verzichten,
als den Schmerz in den Augen der Eltern zu sehen.
Diese Kinder werden zu Erwachsenen,
die sich überarbeiten,
weil sie nie wieder „zu wenig“ sein wollen.
Die immer pünktlich, immer fleißig, immer leise sind –
und nicht verstehen,
warum sie trotzdem nicht aufatmen können.
Armut ist kein Charaktertest.
Sie ist eine Last,
die man lernt zu tragen,
damit sie nicht auffällt.
Warum ich das schreibe
Weil Echtheit nichts mit Elend zu tun hat.
Weil kein Filter der Welt den Geruch einer unbezahlten Rechnung kaschieren kann.
Weil es kein „edgy Lifestyle“ ist,
sich keine Zahnpasta leisten zu können,
und kein „Retro-Vibe“,
wenn Kinder in kalten Wohnungen Hausaufgaben machen.
Weil Romantisierung immer von oben nach unten blickt.
Nie andersrum.
Und weil man den Schmerz nicht verklären darf,
den man nie selbst gefühlt hat.
Sanfte Erinnerung
Armut braucht keine Ästhetik.
Sie braucht Sichtbarkeit.
Sie braucht Solidarität.
Und Menschen, die aufhören, sie zu dekorieren.
Wenn du also das nächste Mal einen Clip siehst,
in dem jemand das „einfache Leben“ glorifiziert,
dann frag dich:
Wer kann sich leisten, es schön zu finden –
und wer muss es einfach überleben?
Fußnote an mich selbst
Ich will Worte schreiben, die nicht schön sind,
aber wahr.
Manchmal ist es wichtiger,
dass etwas wehtut,
damit es endlich gesehen wird.


