Wenn Rot alles übermalt
Ich habe rot gesehen.
Nicht metaphorisch, nicht ein bisschen genervt – richtig rot.
Diese Art von Rot, die dich taub macht, weil sie alles andere überdeckt.
Kein Raum mehr für Vernunft, kein Platz für Mitleid. Nur Druck. Nur Lärm im Kopf.
Es war nicht das erste Mal, dass ich wütend war.
Aber diesmal war die Wut anders.
Sie hatte ein Gesicht. Eine Stimme. Und sie war alt.
Sie kam nicht nur aus dem Streit, sondern aus Monaten, Tage zum teil aus Jahre von Überforderung, Rücksicht, Schlucken, Aushalten.
Und irgendwann will das, was man immer runterschluckt, einfach raus.
Egal wie.
Ich habe rot gesehen – und gleichzeitig mich selbst verloren.
Für einen Moment war da kein Denken, kein Reflektieren.
Nur dieser Impuls: Ich kann nicht mehr. Ich will einfach nur, dass es aufhört.
Danach kommt die Stille.
Diese seltsame, klebrige Stille nach einem Sturm.
Kein Donner mehr, aber der Boden bebt noch.
Man sieht sich selbst von außen, fragt sich, wer da gerade gesprochen hat.
Ob das noch Wut war – oder schon Schmerz.
Ich glaube, das war beides.
Denn Wut ist oft nichts anderes als Traurigkeit, die keinen Platz mehr findet.
Ein Hilfeschrei, der sich nicht traut, leise zu sein.
Manchmal zeigt sich Wut nicht, weil man jemanden hasst –
sondern weil man sich selbst nicht mehr halten kann.
Heute weiß ich: Rot ist keine Schande.
Es ist ein Signal.
Ein letztes Aufleuchten, bevor man implodiert.
Aber es ist gefährlich, wenn man stehenbleibt, statt hinzusehen, woher das Rot kommt.
Ich will lernen, früher hinzuschauen.
Nicht erst, wenn der Kopf kocht.
Nicht erst, wenn Worte schärfer werden, als sie sollten.
Sondern dann, wenn das erste Rot sich noch mit Blau mischt –
wenn aus Wut noch Trauer, aus Druck noch Ehrlichkeit werden kann.
Denn jedes Mal, wenn ich rot sehe,
erinnert es mich daran,
dass ich längst zu viel getragen habe,
ohne es zu sagen.
Und vielleicht ist das der Anfang von Heilung:
Nicht Wut vermeiden.
Sondern verstehen,
warum sie überhaupt da ist.

