Warum wir nicht alle in dieselbe Schublade passen
Ein Text über Jahrgänge, Ereignisse und die zwei Kinder von 2009
Es ist ja so bequem.
„Die Boomer sind so.“
„Die Gen X ist so.“
„Die Millennials wollen Sinn.“
„Die Gen Z ist faul.“
„Alpha wird ganz schlimm.“
Und zack, ist die Welt sortiert.
Nur: Die Welt war noch nie so ordentlich, wie solche Sätze es gern hätten.
Ich habe in den letzten Tagen wieder gemerkt, wie schief das alles wird, wenn wir Menschen nur nach Kalender sortieren. 1981 bis 1996, 1997 bis 2012, 2013 bis heute. Zack, Etikett drauf, fertig. Aber so funktioniert doch kein Leben. Kein einziges.
Eigentlich müssten wir viel öfter fragen:
„Was ist in deiner Jugend passiert?“
und nicht
„In welchem Jahr bist du geboren?“
Denn das sind zwei völlig verschiedene Fragen.
Einmal der Überblick – damit alle mitreden können
Wenn wir schon von Generationen reden, dann einmal sauber:
- Silent Generation – die, die Krieg, Mangel, Flucht und „mach dich klein“ mitbekommen haben
- Babyboomer – die mit Wirtschaftswunder, Aufstieg, „Wenn du lernst, kannst du alles werden“
- Generation X – die mit Ölkrise, Patchwork, „Wir machen’s pragmatisch“
- Generation Y / Millennials – die ersten mit Internet und gleichzeitig mit Finanzkrise beim Berufseinstieg
- Generation Z – die ersten, deren komplette Jugend im Smartphone stattfindet
- Pandemie-Übergangskohorte (ich nenn sie mal Zα) – die 2007–2009er, deren Schul- und Peersozialisation 2020 einfach zerschnitten wurde
- Generation Alpha – die Kinder, für die Corona eher Erzählung als eigenes Erleben ist – dafür aber KI, Tablets, Assistenten ganz selbstverständlich drumrum
Klingt erstmal okay.
Aber das ist nur die Schale. Die Frucht liegt tiefer.
Zwei Kinder. Ein Jahr. Zwei Leben.
Stell dir zwei Kinder vor.
Beide 2009 geboren.
Beide in Deutschland.
Beide „Gen Z“, wenn du eine bunte Instagram-Grafik fragst.
Kind 1: Lena aus Hamburg.
Großstadt, gute Schule, Eltern im Homeoffice. 2018 bekommt sie ein eigenes Tablet, 2019 ein Smartphone. 2020 kommt Corona. Die Schule macht dicht. Es gibt Videokonferenzen. Sie sitzt da, macht mit, hat WLAN, hat Kamera, hat alles. Natürlich ist das doof – aber es läuft.
Kind 2: Mehmet auf dem Land.
Gleicher Jahrgang. 2009.
Aber: kleines Dorf, Internet zum Festhalten, nur ein Handy in der Familie. 2020 kommt auch hier Corona. Die Schule macht auch hier dicht. Nur: Da läuft nichts. Keine stabile Verbindung, kein eigenes Gerät, Eltern müssen arbeiten, vielleicht nicht im Homeoffice. Mehmet fällt raus. Nicht, weil er dumm ist. Sondern weil das Ereignis bei ihm anders angekommen ist.
Nach Kalender sind die beiden gleich.
Nach Leben nicht.
Und genau da liegt der Fehler der ganzen „Die Gen Z ist so“-Sätze.
Es prägt nicht das Jahr – es prägt das Ereignis
Das, worauf es wirklich ankommt, ist:
Was hat dich in deiner empfindlichen Zeit – so zwischen 10 und 18 – erwischt?
- Wenn dich da Krieg und Mangel erwischt haben → du wirst vorsichtig, sparsam, sicherheitsorientiert. (Silent)
- Wenn dich da Wirtschaftswunder und Bildungsexpansion erwischt haben → du glaubst an Aufstieg. (Boomer)
- Wenn dich da Ölkrise, Scheidungen, später Kalter Krieg erwischt haben → du wirst pragmatisch. (Gen X)
- Wenn dich da Internet, ICQ, Handys, dann aber 2008 die Krise erwischt haben → du bist digital, aber nicht naiv. (Gen Y)
- Wenn dich da Smartphone, Social Media, Klima und ständige Vergleichbarkeit erwischt haben → du bist vernetzt, aber auch permanent beobachtet. (Gen Z)
- Wenn dich da Corona mitten in die Pubertät reingegrätscht hat → du bist nicht „digital native“, du bist „sozialisationsunterbrochen“. (Zα)
- Wenn dich da KI und post-pandemische Eltern erwischen → du wächst mit einer anderen Selbstverständlichkeit auf. (Alpha)
Das heißt: Jede Generation hat ihr Ding. Aber nicht jede Person im Jahrgang hat dasselbe Ding gleich stark.
Warum das wichtig ist
Weil wir sonst anfangen, Menschen für etwas zu verurteilen, was gar nicht ihr Charakter ist, sondern ihre Zeit.
- „Die Jungen bleiben nicht lange im Job.“
→ Vielleicht, weil ihr Berufseinstieg mitten in der Krise war und sie gelernt haben: Jobs sind unsicher. - „Die Alten sind nicht digital.“
→ Vielleicht, weil die Technik kam, als ihre Tonmasse schon fast trocken war. - „Die Kinder können nichts mehr.“
→ Vielleicht, weil sie Pandemie-Stufe-3 hatten und du nur Stufe-0.
Wenn wir das nicht sehen, dann machen wir Menschen verantwortlich für Dinge, die ihnen passiert sind.
Und jetzt die Brücke zu den älteren Generationen
Auch die „alten“ Kohorten waren nicht alle gleich.
- Die Silent Generation – 1925 bis 1939 – wird oft nur als „kriegsgeprägt“ beschrieben. Ja. Aber: 1925 in Köln ist nicht 1939 in Schlesien. Und 1945 mit 20 ist nicht 1945 mit 6.
- Die Babyboomer – immer „die aus den 50ern“ – waren im Osten Teil eines komplett anderen Systems. Mauer, Planwirtschaft, andere Sprache für die Welt. Warum reden wir nie darüber?
- Die Generation X im Westen hat Westfernsehen geguckt. Die Generation X im Osten hat Westfernsehen manchmal heimlich geguckt. Beide 1968 geboren. Gleicher Kalender. Unterschiedliche Prägung.
Das heißt: Dieses „Alle 1965–1980 sind Gen X“ ist schon in sich falsch.
Wir haben es uns nur zu lange einfach gemacht.
Was wir stattdessen tun könnten
Statt zu fragen:
„In welchem Jahr bist du geboren?“
fragen wir:
- „Warst du schon online, als du 12 warst?“
- „War bei dir die Schule lange zu?“
- „Bist du in einer Krise in den Job gestartet?“
- „War bei euch noch alles analog?“
- „Hast du Wende / Mauerfall / Abwicklung bewusst erlebt?“
- „Haben deine Eltern dir Flucht / Krieg / Vertreibung erzählt?“
Das sind die Fragen, die erzählen, zu welcher „Generation“ du gehörst.
Nicht 1993 oder 1994.
Was ich mir wünsche
Ich wünsche mir, dass wir gerade im deutschsprachigen Raum aufhören, US-Grafiken zu teilen, auf denen „Gen Z: 1997–2012“ steht, und so tun, als würde das für Leipzig, Fürth, Linz, Zürich, Bochum, Neubrandenburg und ein Dorf hinter Cuxhaven gleich gelten.
Ich wünsche mir, dass wir die Pandemie-Kids nicht einfach in „Z“ reinquetschen und sagen: „Na ja, die sind ja digital.“
Nein. Die sind unterbrochen. Das ist was anderes.
Ich wünsche mir, dass wir bei den „Alten“ wieder sehen:
Es gibt die, die den Krieg noch gerochen haben.
Es gibt die, die nur die Erzählungen kennen.
Es gibt die, die im Westen boomten.
Es gibt die, die im Osten rausflogen.
Alle „älter“. Alle verschieden.
Und ich wünsche mir, dass wir unsere Urteile ein kleines bisschen später fällen.
Erst zuhören, dann schubladisieren. Nicht andersrum.
Einmal zusammengefasst
Wir passen nicht in dieselbe Schublade, weil nicht dasselbe in unsere Schublade gefallen ist.
Lena in Hamburg 2009 und Mehmet auf dem Land 2009 sind nicht „die Gen Z“.
Sie sind:
- zwei Kinder,
- gleich alt,
- gleicher Staat,
- aber anders getroffen.
Wenn wir das sehen, reden wir anders miteinander.
Nicht: „Du bist Gen Z, deswegen…“
sondern:
„Ah, du bist eine Pandemie-Jugend mit spätem Internet – dann ist klar, warum du Gruppenräume hasst.“
Genau darum geht’s.

