Wie wir verlernen, uns zu wundern – und warum Neugier Heilung ist
Über das Staunen, das uns verloren ging, und die Welt, die darauf wartet, wieder gesehen zu werden.
Content Note: Dieser Text spricht über Achtsamkeit, emotionale Abstumpfung und die Rückkehr zur kindlichen Neugier. Keine belastenden Themen, aber viel leise Ehrlichkeit.
Die Szene
Ich stehe mit Sam draußen.
Es hat geregnet, die Straße glitzert, als hätte jemand sie mit Glas bestreut.
Er bleibt stehen, kniet sich hin,
und betrachtet eine kleine Pfütze, als wäre sie ein Portal in eine andere Welt.
„Papa, guck mal! Der Himmel ist im Wasser!“
Ich sehe es.
Und gleichzeitig merke ich:
Ich hätte es nicht gesehen, wenn er mich nicht darauf hingewiesen hätte.
Ich wäre einfach vorbeigelaufen –
weil Termine, Gedanken, To-do-Listen lauter waren als der Himmel im Wasser.
Warum ich das schreibe
Irgendwann, irgendwo zwischen Schule, Arbeit und Verantwortung,
haben wir verlernt, uns zu wundern.
Wir wissen zu viel.
Wir erklären alles.
Und was wir nicht erklären können,
halten wir für unwichtig.
Aber Neugier ist keine kindische Eigenschaft.
Sie ist eine Form von Lebendigkeit.
Sie bedeutet: Ich bin noch interessiert.
Ich bin noch da.
Ich spüre noch, dass etwas in mir auf Fragen reagiert.
Einsicht 1: Wissen beruhigt – Staunen belebt
Wir leben in einer Zeit, in der man alles googeln kann.
Antworten sind immer nur ein Klick entfernt.
Aber das Problem ist:
Wer immer nur Antworten sucht,
verliert irgendwann den Reiz der Frage.
Wissen schließt Kreise.
Staunen öffnet sie.
Und manchmal ist genau dieses Öffnen das,
was uns wieder gesund macht.
Einsicht 2: Kinder fragen nicht, um zu verstehen – sie fragen, um zu verbinden
Sam fragt mich manchmal Dinge, die mich zum Lächeln bringen:
„Warum kann man den Wind nicht sehen?“
„Wohin gehen Gedanken, wenn man sie nicht mehr denkt?“
Früher hätte ich versucht, das zu erklären.
Heute frage ich zurück:
„Was glaubst du denn?“
Weil ich gelernt habe,
dass Kinder nicht nach Fakten suchen –
sie suchen Nähe durch Staunen.
Und vielleicht tun wir Erwachsenen das auch,
nur auf kompliziertere Weise.
Einsicht 3: Neugier ist die Gegenbewegung zur Erschöpfung
Wenn alles gleich aussieht, gleich klingt, gleich funktioniert,
stumpfen wir ab.
Wir sagen dann: „Ich bin müde.“
Aber oft ist es keine körperliche Müdigkeit.
Es ist die Erschöpfung von Sinn.
Neugier ist das Gegengift.
Nicht im großen, spektakulären Sinne –
sondern in den kleinen Momenten,
in denen wir wieder merken, dass das Leben reagiert.
Eine neue Pflanze auf dem Balkon.
Der Geruch von Regen auf Asphalt.
Der Moment, in dem dein Kind dir etwas zeigt,
das du längst übersehen hattest.
Das ist Heilung.
Still. Echt. Wiederholt.
Einsicht 4: Staunen ist kein Rückschritt – es ist Erinnerung
Wir halten Reife oft für die Fähigkeit, nichts mehr zu überraschen.
Aber vielleicht ist es genau andersherum.
Vielleicht ist Reife,
sich vom Leben immer wieder überraschen zu lassen,
ohne zynisch zu werden.
Wer staunen kann, hat Hoffnung.
Und Hoffnung – das ist nichts anderes als leise, gelebte Neugier.
Sanfte Einladung
Wenn du magst, probiere es heute aus:
- Sieh dir etwas an, das du längst kennst.
Eine Straße, einen Baum, dein eigenes Gesicht im Spiegel. - Tu so, als würdest du es zum ersten Mal sehen.
- Frag dich: Was daran ist schön, ohne nützlich zu sein?
Du wirst merken:
Das Leben verändert sich nicht –
aber du tust es.
Fußnote an mich selbst
Ich will nicht alles verstehen.
Ich will wieder lernen, mich zu wundern.
Weil Staunen manchmal
die ehrlichste Form von Dankbarkeit ist.

